Neben einem methodisch überzeugend ausgearbeiteten Forschungsdesign und analytischer Methodenbegründung gehören das wissenschaftliche Recherchieren, die wissenschaftliche Daten- und Materialaufarbeitung, Stoffsammlung und Quellenarbeit, zu den wichtigsten Voraussetzungen für qualitätsorientiertes und erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten.
Wissenschaftliche Daten- und Materialaufarbeitung meint mehr als die akribische Literaturrecherche (diese wird im zweiten Hauptteil für jede Arbeitenart einzeln aufgeführt und erörtert). Wer wissenschaftlich recherchiert, um eine gegebene Aufgaben- und Themenstellung abzuarbeiten, benötigt bei der Materialauswahl sowohl einen Plan als auch eine Methodik. Ansonsten läuft das Untersuchungsdesign Gefahr, lediglich eine gute Recherchearbeit zu einem Thema zu sein, anstatt die systematische (lückenlose) und methodisch begründete Überprüfung einer gewählten Problemstellung darzustellen.
Beim wissenschaftlichen Recherchieren kommt es folglich darauf an, durch eine bestimmte Reihenfolge von Bearbeitungsschritten für die systematische Aufarbeitung des Forschungsstands, der Quellenlage und des fachlichen Diskussionszusammenhangs zu sorgen. Der Recherche-Prozess bezieht sich also nicht nur auf die Sekundärliteratur im ausgewählten Untersuchungsfeld, sondern erstreckt sich auf den gesamten Umfang der Materialauswahl und -bewertung.
Dabei ist auf eine repräsentative Breite im Zugang zu den relevanten Quellen, Daten und Materialien zu achten. Das bedeutet, die Konsultation der im Lehrfach oder Fachbereich kanonisierten Lehrmaterialien, Autorenquellen (standardisierte Referenzautoren) und Fachlexika hat Vorrang vor der Material- und Stoffsammlung durch Online-Nachschlagewerke wie Wikipedia oder die Google-Recherche (siehe: Exkurs Wikipedia).
Folgende Arbeitsschritte sind bei der systematischen Recherche für eine wissenschaftliche Aufgabenstellung sinnvoll und tragen zur Effizienz im Rechercheprozess bei:
Schritt 1: Stoffsammlung
Die Stoffsammlung ist im wissenschaftlichen Rechercheprozess die Grundstufe, mit dem Schwerpunkt auf der Materialbeschaffung und -auswahl. Wie umfangreich die Stoffsammlung angelegt werden muss, ergibt sich aus den einzelnen Arbeitenarten (s. Kapitel in Hauptteil 2). Grundsätzlich gilt aber: „Mehr ist auch mehr!“ Die Stoffsammlung der Recherchephase umfasst:
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umfassende Sichtung der wissenschaftlichen Forschungs- und Fachliteratur in der Reihenfolge: Fachbücher (Monografien, Sammelbände) – Fachjournale (Zeitschriften) – Konferenzbeiträge (Paper, Periodika, Fach-Diskussionsforen u. a.) – Online-Publikationen – Fachlexika – Rezensionsorgane
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Gegenrecherche relevanter Schlagwörter und Beiträge in Fachbibliografien
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Berücksichtigung von neueren Fachdiskussionen (Tagungs- oder Messeberichte, Artikel in tagesaktuellen Medien, Weblogs u. ä.)
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Stichprobe auf zentrale Stichwörter der Aufgabenstellung durch Internetrecherche (Erschließen ggf. tagesaktueller Beiträge zum Thema)
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Anlegen eines exakten Literaturverzeichnisses der wichtigsten Quellen (Arbeitsbibliografie)
Schritt 2: Quellenarbeit (wissenschaftliche Daten- und Materialaufarbeitung)
Jede Quellenrecherche führt in ihrem zweiten Schritt zum Anlesen und Ordnen der bibliografisch erfassten Beiträge. Auf die Phase der Materialbeschaffung und Materialauswahl erfolgt somit die Phase der Materialbewertung.
Kern dieser Arbeitsphase ist die systematische Aufarbeitung des Forschungsstands zum Projektthema (ausführliches Exzerpieren des Diskussionsstands der Sekundär-Literatur unter Berücksichtigung der Forschungs-Chronologie). Hierzu gehört das Benennen (ggf. vorläufig) von bemerkten Defiziten in der Fachliteratur und -diskussion (Aufzeigen der sogenannten Forschungslücke). Ebenso ist hier die Erstellung eines Plans (z. B. für ein Exposee), in dem detailliert vermerkt ist, welche besonderen Quellen (empirische Materialbasis, Unternehmensdaten, Handschriften, Sonderarchive, Interviews u. ä.) als Basis für die Analyse verwendet werden sollten, notwendig. Ergebnis der Quellenarbeit – und damit des Rechercheprozesses – ist ein systematischer Arbeitsplan, der die Aufgabenstellung transparent in den wissenschaftlichen Diskussionskontext einstellt und das methodische Vorgehen mit Bezug auf das sondierte Recherchematerial objektiviert, allgemein gültig und forschungsrelevant macht.
Im Verlauf der wissenschaftlichen Daten- und Materialaufarbeitung, also der eigentlichen Quellenarbeit, wird üblicherweise zwischen zwei alternativen Vorgehensweisen unterschieden: der systematischen Methode und dem Closed-circle-System.
a. Systematische Methode
Bei diesem Recherche-Prinzip wird vom aktuellen Quellen-/Forschungsstand (z. B. unter Auswertung von Fachjournalen oder von neuen Beiträgen eines bestimmten Autors) ausgegangen. Die älteren Quellen werden von der Einstiegsstelle aus zurückrecherchiert und es ergibt sich im Rechercheverlauf ein komplexes Netz an Autoren, Quellen und Positionen zum Thema. Neben fremden Erhebungen sind insbesondere bei Haus- und Seminararbeiten auch eigene Arbeiten mit einzubeziehen, sofern vorhanden.
Der Vorteil besteht in der Wahrscheinlichkeit, mit dieser Methode möglichst lückenlos das Themenfeld bzw. die Aufgabenstellung zu erfassen.
Der Nachteil liegt vor allem in der Anfangsphase der Ausarbeitung in der Gefahr, sich in der Vielfalt der verschiedenen Problemzugänge zu verlieren.
b. Closed-circle-System
Bei dieser Recherchemethode (auch Lawinen- oder Schneeballmethode genannt) werden ständig wiederholt zitierte Werke für die Präzisierung des Arbeitsthemas herangezogen. Dabei spielt der Veröffentlichungszeitraum keine Rolle. Entscheidend ist, dass bestimmte Autoren und Positionen ähnlich bewertet werden. So entsteht eine aus Schwerpunkt-Autoren bestehende feste Zitierlinie, auf die sich die eigene Ausarbeitung berufen kann.
Der Vorteil besteht in der Übersichtlichkeit der Argumente anhand der wissenschaftlichen Forschungsstandpunkte.
Der Nachteil besteht in der Gefahr, dass aktuelle Beiträge oder kritische Gegenpositionen zu den ‚Systemautoren‘
Beide Verfahren – systematische Methode und Closed-circle-System – beruhen auf sorgfältiger und kontinuierlicher Sichtung des Materials. Beide sind vergleichbar zielführend, effizient und arbeitsmethodisch sinnvoll. Sie sollten sich nach Möglichkeit nicht ausschließen, sondern zumindest phasenweise ergänzen.
! Expertentipp: Mit dem Recherchevorgang wird die Basis der wissenschaftlichen Arbeit gelegt. Die recherchierte Materialbasis muss also erstens breit genug sein (lieber zu breit als zu schmal), um zu repräsentativen Ergebnissen zu führen. Zweitens ist unbedingt darauf zu achten, dass die Material- und Quellenebene qualitativ hochwertig ist, also nur seriöse und zitierfähige Quellen enthält. Das dritte Prüfungskriterium ist die Aktualität der verwendeten Quellen. Prüfen Sie während und nach Ihrer Recherchearbeit, ob Sie alle drei Faktoren in vollem Umfang berücksichtigt haben!
Exkurs:
Wikipedia: Zwischen Pro und Contra
Die Frage, ob die Online-Enzyklopädie Wikipedia eine zulässige Quelle einer wissenschaftlichen Arbeit darstellt, gilt im Hochschulbereich als umstritten. Sie lässt sich auch nicht generell für alle Fachgebiete beantworten.
Fest steht: Trotz zunehmender Wertschätzung online verfügbarer Wissensbestände wird die wissenschaftliche Verwertbarkeit von Artikeln und Quellen auf Wikipedia von den meisten Hochschul-Dozenten nach wie vor angezweifelt oder auch verneint, nach der Devise: Wiki-Wissen mag legitimer Wissenserwerb in der Schule, nicht jedoch in der Hochschule sein. Nach dem Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz gilt Wikipedia-Wissen dementsprechend als „Meinungswissen” – im deutlichen Unterschied zum seriösen wissenschaftlichen Wissen. Gleichzeitig gehört das auf Wikipedia von mehreren Nutzern (Autoren) generierte Wissen zu den Formen des legitimen kollaborativen Wissenserwerbs – mit unbestrittenem Nutzen für bestimmte Phasen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Arbeit.
Die Fragen, die im Entstehungszusammenhang wissenschaftlicher Arbeiten relevant sind, lauten allerdings: Wie verlässlich – und das heißt wissenschaftlich verwertbar – sind Wikipedia-Quellenangaben? Bis zu welchem Grad ist ihre Nutzung innerhalb der wissenschaftlichen Arbeitsziels tolerierbar? Die Beantwortung dieser Fragen lässt sich im Pro und Contra der Wikipedia-Verwendung folgendermaßen zusammenfassen:
Pro Wikipedia:
1) Wikipedia unterstützt in den meisten Fächern die Orientierung im Themengebiet. Um sich in der Materialsuchphase einen ersten Überblick und ein Meinungsbild zu gegebenenfalls konträren Positionen zu verschaffen, kann Wikipedia sehr nützlich sein, denn das hier praktizierte kollaborative Wissensmanagement vermeidet einseitige Standpunkte.
2) Wikipedia gibt erste Hinweise auf die einschlägigen und weitere Quellen (Autoren) zum Thema (Literaturliste, Internet-Links, ggf. weitere Medien) und hilft dadurch bei der effizienten Sichtung erster Quellenhinweise.
3) Mit dem Vorteil der tagesaktuellen Wissenseinspeisung bietet Wikipedia gegenüber allen gedruckten Darstellungen einen Aktualitätsvorsprung. Geht es um das Beurteilen aktueller Tendenzen, ist der Rückgriff auf das Online-Nachschlagewerk daher in der thematischen Auseinandersetzung eine sinnvolle Option.
Contra Wikipedia:
1) Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens sind zitierfähige wissenschaftliche Quellen, in der Regel fachbezogene Publikationen (Lehrbücher, Fachliteratur in Fachjournalen, Fachaufsätze). Auf Wikipedia werden zwar auch wissenschaftliche Quellen verwendet, häufig sind sie jedoch nicht zuverlässig ausgewiesen oder es fehlt dem Nutzer der Einblick in den Kontext, aus dem zitiert wurde. Hier lauert daher die Gefahr eines unsicheren Quellenbezugs ohne akademisch autorisierte Position. Qualifikationen und Referenzen der Autoren sind im Einzelnen nicht überprüfbar.
2) Die Verwendung der Wikipedia-Quellen birgt die Gefahr, nicht zitierwürdige Quellen in der Argumentation zu verwenden und somit verzerrenden Zusammenhängen aufzusitzen. Zusammen mit der ebenfalls nicht generell gegebenen Qualität fachterminologischer Ausdrucksweise bleibt die Möglichkeit zur Schärfung der wissenschaftlichen Klarheit für die eigene Argumentation generell stark eingeschränkt.
3) Aufgrund der in der „scientific community” nach wie vor verbreiteten Einschätzung, Wikipedia biete weder zitierwürdige noch zitierfähige Quellen, bleibt dieses Nachschlagewerk fächerübergreifend dem Verdacht einer populärwissenschaftlichen (statt streng wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit einem Fachthema ausgesetzt.
! Expertentipp: Die Verwendung von Wikipedia-Einträgen für die eigene wissenschaftliche Arbeit sollte keinesfalls nur davon abhängig gemacht werden, wie man selbst den Wert dieser Wissensquelle für das Arbeitsthema einschätzt. Lassen Sie sich vielmehr davon leiten, wie Ihr Dozent zum Thema Wikipedia steht (bekanntlich neigen weniger internetaffine Betreuer zur Skepsis gegenüber Wikipedia, das muss jedoch nicht die Regel sein). Sprechen Sie Ihren Betreuer direkt auf die Legitimität der Verwendung an und ersparen Sie sich dadurch unangenehme Überraschungen.